Identifizierung von Mechanismen, die das MECP2-Gen auf dem inaktiven X-Chromosom stumm halten.

Marisa Bartolomei, PhD an der University Of Pennsylvania School Of Medicine erhielt vom RSRT finanzielle Mittel, um die Mechanismen zu identifizieren, die das MECP2-Gen auf dem inaktiven X-Chromosom stumm halten.

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Dr. Bartolomei diskutiert dieses neue Vorhaben in ihrem Labor im Gespräch mit Monica Coenraads. (Verwandter Blog-Eintrag hier nachzulesen)

MC: Dr. Bartolomei, herzlichen Glückwunsch zur Bewilligung der Mittel für diese Initiative. Bitte erläutern Sie unseren Lesern kurz die Zielsetzung dieses Projekts.

MB: Das Ziel des Projekts ist ganz einfach. Wir wollen herausfinden, auf welche Art und Weise epigenetische Veränderungen dieses Gen unterdrücken. Heutzutage versteht jeder, was das Genom ist. Es umfasst das gesamte genetische Material eines Organismus, das in dessen DNS enthalten ist. Ungefähr während des letzten Jahrzehnts sind wir zu dem Bewusstsein gelangt, dass das Epigenom über das Genom hinaus existiert, sozusagen um das Genom herum bzw. ihm übergeordnet. Das Epigenom umfasst Veränderungen in der Genexpression (d.h. Veränderungen, die die Übersetzung der genetischen Information in Eiweißbausteine beeinflussen). Sie werden von Mechanismen ausgelöst, die sich von Veränderungen in der zugrunde liegenden DNS-Sequenz unterscheiden. Diese Veränderungen wollen wir am MECP2-Gen auf dem inaktiven X identifizieren.

MC: Um Epigenetik besser zu verstehen, fand ich folgendes Modell ganz hilfreich: Man stellt sich die DNS als ein Armband vor und epigenetische Veränderungen als Anhänger, die man an diesem Armband befestigen oder davon abnehmen kann.

MB: Das ist ein gutes Modell. Es verdeutlicht eine wichtige Vorstellung in der Epigenetik, nämlich ihren dynamischen Charakter: Veränderungen (die Anhänger) können hinzugefügt UND entfernt werden. So erscheint eine medikamentöse Behandlung in der Epigenetik durchaus vorstellbar.

MC: Was stellen Sie sich im besten Fall als Ergebnis dieses Projekts vor?

MB: Meine Hoffnung ist, dass wir eine spezifische Veränderung oder mehrere davon auffinden und von da aus zu einem Medikament oder einer Wirkstoffklasse gelangen, die diese Veränderung rückgängig machen kann. In einigen wenigen, aber immerhin bedeutsamen Arbeiten wird das als möglich betrachtet. Ein weniger ermutigendes Szenario wäre es, herauszufinden, dass die Veränderung, die MECP2 unterdrückt, generisch ist und gleichzeitig viele andere Gene unterdrückt. Das ist nicht sehr wünschenswert, weil wir eigentlich nicht die Expression vieler Gene verändern wollen.

MC: Es wäre natürlich ideal, nur eine spezifische Veränderung zu finden. Aber man verwendet ja schon Medikamente, die die Expression Hunderter Gene verändern, wie etwa Alproinsäure (womit viele Mädchen mit Rett, auch meine Tochter, wegen der Krämpfe behandelt werden). Demnach ist es vielleicht nicht so problematisch, die Expression zu verändern, je nachdem, um welche Gene es sich im Einzelnen handelt.
Eine weitere Sorge wären potenzielle Schäden, die durch die Aktivierung des mutierten und zuvor stummen MECP2 ausgelöst werden könnten.

MB: Die Frage, ob das mutierte MECP2 dem Körper abgesehen von seinem Nicht-Funktionieren Schäden zufügt, blieb bisher unbeantwortet. Wenn das mutierte MECP2 einfach nicht funktioniert, sollte es unbedenklich sein, es zu aktivieren. Dieses Szenario nennt man “Funktionsverlust”. Sollte das mutierte MECP2 allerdings Schäden verursachen, die über ein einfaches Nicht-Funktionieren hinausgehen (bezeichnet als “Funktionszunahme”), dann könnte eine Aktivierung des mutierten MECP2 die Situation verschärfen.
Ich vermute, dass einige Mutationen in Funktionsverlust bestehen können und andere in Funktionszunahme. Dies ist eine Schlüsselfrage, der sich das Forschungsgebiet widmen muss.

MC: Ich habe neulich erfahren, dass etwa 10-15% der Gene auf dem inaktiven X in Wirklichkeit nicht von der Genabschaltung betroffen, sondern aktiv sind.

MB: Ja, dieses Phänomen war eher unerwartet. Wir werden analysieren können, was in diesen “entwischten Genen” vorgeht und sehen, ob die gleichen Mechanismen des Entwischens auch auf MECP2 übertragbar sind.
Eine wichtige Frage, die man auf dem Gebiet der X-Inaktivierung zu beantworten versucht, ist, ob das gesamte X-Chromosom abgeschaltet ist und ob dann bestimmte Gene wieder eingeschaltet werden, oder ob diese Gene die ganze Zeit über eingeschaltet sind. Bezüglich des Rett-Syndroms wäre das wünschenswerte Szenario für mich, dass das gesamte X-Chromosom abgeschaltet ist und dann einzelne Gene wieder eingeschaltet werden. Das würde für mich darauf hindeuten, dass das inaktive X nicht so “verriegelt” ist, wie wir bisher gedacht haben. In dem Fall sind auch einzelne Veränderungen an spezifischen Genen vorstellbar.

MC: Sie haben Abschaltmechanismen für andere Gene herausgefunden, richtig?

MB: Ich erreichte das aus dem Blickwinkel der Prägung. Hier haben wir Gene untersucht, bei denen ein Gen eingeschaltet ist und ein anderes ausgeschaltet, je nachdem, von welchem Elternteil es vererbt wurde. Prägung unterscheidet sich ein bisschen von der X-Chromosom-Inaktivierung, wo die Expression nicht vom Elternteil bestimmt ist, sondern quasi komplett zufällig passiert. Das Phänomen der zufälligen Inaktivierung verkompliziert die Dinge ein bisschen. Letztlich haben wir aber eine Menge Erfahrung mit dieser Art von Untersuchungen der Prägung. Außerdem kennen wir uns ebenfalls beim Untersuchen der X-Chromosom-Inaktivierung bestens aus. Mein Gespür sagt mir, dass die Kombination beider Forschungsfelder für dieses Projekt sehr gut zusammen passt. Ich freue mich darauf, diese Jahre der Erfahrung für einen guten Zweck nutzbar zu machen.

MC: Verraten Sie unseren Lesern, wie Sie Ihr Interesse an diesem Projekt entdeckt haben?

MB: Viele meiner früheren Aktivitäten waren extrem auf die Grundlagenforschung bezogen. Etwas zu tun, dass eine Krankheit wirklich beeinflussen kann, ist für mich ein großer Anreiz. Je älter ich werde, desto wichtiger wird es für mich, diese Art Einfluss ausüben zu können. Selbstverständlich ist dieses Projekt auch eine geistige Herausforderung, was mir sehr gefällt.
Über die Jahre habe ich an vielen der von dir organisierten Rett-Konferenzen teilgenommen, Monica. Je öfter ich dabei war, desto stärker beschäftigte mich die Störung und umso mehr fühlte ich, dass meine fachliche Eignung in sinnvoller Weise zum Verstehen dieses Leidens beitragen kann.
Durch deine Zusammentreffen hatte ich Gelegenheit, Mädchen mit Rett-Syndrom und ihre Familien kennen zu lernen. Ich halte es für unerlässlich, Familien und Wissenschaftler zusammen zu bringen. Wir können sehr viel voneinander lernen.

MC: Dr. Bartolomei, ich danke Ihnen für Ihre Zeit und Ihr Interesse am Rett-Syndrom. Mit Freude werde ich unsere Leser über Ihre Fortschritte auf dem Laufenden halten. Ich bin sicher, sie wünschen Ihnen ebenso viel Erfolg wie ich.