Rett-Syndrom: Nicht länger eine Frage der neurologischen Entwicklung

Huda Zoghbis wegweisende Entdeckung der genetischen Ursachen des Rett-Syndroms 1999 führten zu einer neuen Forschungsära. Die ersten Mausmodelle für die Krankheit kamen 2001 zum Einsatz. Den männlichen Mäusen, so genannten Knockouts, fehlt das Mecp2-Protein komplett; den weiblichen Tieren fehlt in etwa der Hälfte ihrer Zellen das Protein, was auf die Deaktivierung des X-Chromosoms zurückzuführen ist.
An dies denken die meisten Leute, wenn über „Rett-Mäuse“ gesprochen wird. Doch in den letzten Jahren wurden weitere Mausmodelle entwickelt, jedes davon speziell zur Beantwortung einer spezifischen Frage, so dass wir mehr Aspekte der Störung kennen lernen konnten. Die Unterschiede zwischen diesen vielfältigen Modellen bilden die Grundlage für viele gegenwärtige Bemühungen bei der Suche nach geeigneten Medikamenten.

Daten zum neuesten Tiermodell wurden heute in dem erstklassigen Fachjournal Science veröffentlicht. Das Modell wurde im Zoghbi-Labor von dem Doktoranden Christopher McGraw entwickelt. Mittels gentechnischer Verfahren züchtete er Mäuse, denen Mecp2 nur als erwachsenes Tier fehlt.

MONICA COENRAADS, GESCHÄFTSFÜHRERIN DES RSRT, INTERVIEWT HUDA ZOGHBI, M.D.www.rsrt.org
24Huda Zoghbi, MD

MC: Dr. Zoghbi, erzählen Sie uns bitte von Ihrer Entscheidung, dieses Experiment durchzuführen und natürlich von den Ergebnissen.

HZ: Für die Durchführung dieser Studie gab es zwei Gründe. Wir wissen, dass die Rett-Symptome nach der Geburt beginnen und wollten verstehen, ob es bei der Krankheit irgendwelche entwicklungsabhängigen Komponenten gibt. Mit anderen Worten: Hat das Mecp2-Protein eine Funktion, die während der Frühentwicklung oder Kindheit wichtig ist? Das war unsere erste Frage.
Die Experimente im Labor von Adrian Bird 2007 haben uns gezeigt, dass die Rett-ähnlichen Symptome von erwachsenen Mäusen mit abnormer Entwicklung durch das fehlende Protein umgekehrt werden, wenn Mecp2 wiederhergestellt wird. Wir waren neugierig zu sehen, ob Hirnzellen, die bei präsentem Mecp2 ordentlich entwickelt und gereift waren sowie die typischen Erfahrungen des Lernens und Gedächtnisses durchlaufen hatten, einen milderen Phänotyp ausbildeten, wenn das Protein im Erwachsenenstadium entfernt wurde. Die Antwort war ein deutliches NEIN. Die große Überraschung für uns war, wie ähnlich die Knockout-Mäuse, denen von der Zeugung an das Mecp2 fehlte, den Mäusen waren, denen Mecp2 nur als Erwachsenen fehlte. Daraus haben wir gelernt, dass ein Umgehen der kritischen Entwicklungsphase die Ernsthaftigkeit der Symptome nicht beeinflusst.
Das Experiment zeigt uns, dass Mecp2 zu jeder Zeit gebraucht wird. Es zeigt uns auch, dass Mecp2 nicht für die Entwicklung nötig ist, sondern eher der Aufrechterhaltung einer normalen Hirnfunktion dient.

MC: Dann hat der zeitliche Ablauf beim Auftreten der Rett-Symptome nichts mit Entwicklung zu tun, sondern damit, was nach dem Entfernen von Mecp2 im Gehirn passiert. Können wir also mit Sicherheit sagen, dass Rett keine Störung der neuronalen Entwicklung ist?

HZ: Wir haben unsere Experimente an Mäusen und nicht an Menschen durchgeführt und müssen uns daher immer dieses Vorbehalts bewusst sein. Ich denke aber, dass Sie Recht haben. Was zählt ist, wie lange die Zellen ohne das Protein sind.

MC: Ihr Experiment stärkt sicherlich die Annahme, dass Rett nicht im Zusammenhang mit der neuronalen Entwicklung steht. Die Umkehrungsexperimente von 2007 gaben den ersten Anhaltspunkt. Wir beide haben an Konferenzen teilgenommen, wo dieser Punkt diskutiert wurde. Einige waren der Ansicht, dass es die Diskussion nicht wert war, weil es sich um Formulierungsfragen handelte. Dieser Ansicht bin ich nicht. Hier geht es nicht nur um die richtige Wortwahl, sondern um klinische Implikationen.

HZ: Da haben Sie Recht, es geht nicht um die Wortwahl. Ich nenne Rett inzwischen eine postnatale neurologische Störung. Mecp2 ist ein Faktor, der die normale Funktion von Hirnzellen entscheidend beeinflusst. Es ist ein Faktor, der durchgängig für eine normale Nervenfunktion gebraucht wird, und dies hat Implikationen für Therapien. Man wird Therapien langfristig anlegen müssen.

MC: Ihre Erkenntnisse haben auch Implikationen für andere postnatale Störungen wie etwa Autismus. Können Sie das erläutern?

HZ: Es gibt viele Störungen, die nach der Geburt auftreten, und wir haben angenommen, dass – ähnlich wie bei Rett – ein fehlendes Protein die normale Entwicklung stört. Ich denke, diese Arbeit sagt uns, dass dies vielleicht nicht der Fall ist. Im Fall von Rett beeinflusst das Protein die Transkription, in anderen Fällen machen die Proteine etwas anderes, aber der Endeffekt ist der gleiche – ein bestimmtes Molekül wird nicht in der richtigen Menge produziert, die in der Hirnzelle gebraucht wird.
Was dann Störungen wie Fragiles X, das Angelman-Syndrom oder die Tuberöse Hirnsklerose betrifft: Wenn wir das besondere Protein entfernen, für das die Zellen im Zusammenhang mit dem Defizit sensibel sind, es dann aber zurückführen, sind die Chancen für eine Heilung sehr hoch.

MC: Der Schlüssel ist also, dass Rett-Symptome nicht eindeutig festgelegt sind, weil die gleichen Symptome auch beim erwachsenen Knockout auftreten. Das sind hoffnungsvolle und ermutigende Neuigkeiten.
Ich finde es faszinierend, dass sich die Forschung von einem immerwährenden Dogma der Neurowissenschaften weg bewegt, obwohl Rett eine eher seltene Störung ist und nur eine kleine Anzahl Forscher daran arbeitet.
Ihre Entdeckung von 1999 machte Rett zur ersten sporadischen neurologischen Störung, mit der ein Gen assoziier war. Rett war die erste neurologische Störung in der Kindheit, die als reversibel nachgewiesen werden konnte. Das lehrte uns einiges über die Plastizität des Gehirns. Wir wissen heute, dass Rett nicht an die Entwicklung gebunden ist, und diese Tatsache stellt ebenfalls die Interpretation anderer Störungen wie Fragiles X, das Angelman-Syndrom, die Tuberöse Hirnsklerose und anderer als Störungen in der neuronalen Entwicklung infrage. Das ist schon bemerkenswert.
Es ist jetzt fast 12 Jahre her, dass Sie die genetische Ursache für Rett entdeckt haben. Sind wir mit unserer Suche nach Behandlungsmöglichkeiten an einem Punkt, den Sie so erwartet hatten?

HZ: In vielerlei Hinsicht laufen die Dinge gut, da wir so viel über die Krankheit gelernt haben. Wir wissen, dass die Hirnanatomie normal ist, wir wissen, dass Zellen sich erholen, wenn man dieses Protein zurückbringt. Unsere Herausforderung ist, dass das Protein für so viele Zellen essentiell ist. Wenn wir eine pharmakologische Interventionsmöglichkeit finden, die eine große Mehrheit der Zellen trifft, ist das der Schlüssel. Ich unterschätze die Schwierigkeiten allerdings nicht; es bedarf einer außerordentlich guten Pharmakologie, wenn man die Symptome unter Kontrolle bringen will.

MC: Ich weiß, dass ich für alle Rett-Familien überall auf der Welt spreche: Wir sind Ihnen unendlich dankbar, dass Sie für unsere Kinder arbeiten. Vielen Dank für Ihren Einsatz, Ihre Zielstrebigkeit und harte Arbeit.