Implikationen für Immunzellen im Hirn durch Rett-Syndrom-Studie

Von Jim Schnabel
18. April 2012
Das Rett-Syndrom, ein genetisch bedingtes Leiden, das ernsthaftes geistiges Retardieren hervorruft, war lange ein seltenes und trauriges Rätsel für die Wissenschaft—doch es ist ein Rätsel von größerer Wichtigkeit, als seine kleine Gruppe von Betroffenen (~15.000 in den USA) vermuten ließe. Das Syndrom äußert sich durch einen plötzlichen Rückgang in der normalen Entwicklung, wenn ein Kind zwischen 6 und 18 Monate alt ist. Zu diesem Rückgang gehören bemerkenswerterweise Autismus-ähnliche Merkmale wie Sprachverlust und sozialer Rückzug. Forscher, die Rett untersuchen, hoffen, dass sie mit darüber gewonnenem Verständnis eventuell auch mehr über Autismus und möglicherweise sogar weitere Verhaltensstörungen herausfinden. Dies macht einen neuen Bericht, der am 18. März in der Online-Ausgabe von Nature erschien, besonders interessant: Junge Mäuse, die den genetischen Defekt von Rett haben und normalerweise eine Rett-ähnliche Störung entwickeln, waren weitgehend geschützt durch eine Knochenmarktransplantation, die gesunde Immunzellen in ihr Hirn brachte.
„Von klinischen Tests sind wir weit entfernt, aber die Ergebnisse der Marktransplantation bei diesen Mäusen waren phantastisch“, sagt Jonathan Kipnis, außerordentlicher Professor für Neuroimmunologie an der Universität Virginia und federführend bei diesem Bericht.
Ersatz von Mikroglia
Das Rett-Syndrom wird üblicherweise durch spontane Mutationen des Gens MeCP2 in der DNA von Spermazellen verursacht. Dieses Gen ist im Normalfall hoch exprimiert in Hirnzellen. Es befindet sich auf dem X-Chromosom, und Jungen, die nur über ein X-Chromosom verfügen, überleben selten länger nach der Geburt, wenn ihr Mecp2-Gen beschädigt ist. Mädchen haben zwei X-Chromosomen, von denen nur eins in jeder Zelle aktiv ist, so dass nur ungefähr die Hälfte der Hirnzellen von Mädchen mit Rett-Syndrom aktive, funktionierende Kopien von Mecp2 besitzen. Diese Mädchen entwickeln sich zunächst normal, doch zwischen dem sechsten und achtzehnten Lebensmonat kommt es zu Regressionen, die sich autismus-ähnlich gestalten und mit Atemschwierigkeiten, Lernschwierigkeiten, motorischen Abnormitäten und Krämpfen einhergehen. Diese Anzeichen stabilisieren sich nach einigen Jahren, und Mädchen mit Rett leben gewöhnlich bis zum Alter von 50 Jahren und mehr, sind aber ernsthaft eingeschränkt und können oft weder sprechen noch gehen—und tatsächlich gibt es keine wirksame Behandlung für ihren Zustand.
Das Mecp2-Gen kodiert das MECP2-Protein, welches gemeinhin eine große ‚epigenetische’ Rolle spielt, indem es einige Gene abgeschaltet und andere eingeschaltet hält. Wissenschaftler verstehen allerdings noch immer nicht, wie ein Verlust der MECP2-Funktion zu den vielfältigen Problemen des Rett-Syndroms führt. Bei Mausmodellen für Rett (typischerweise durch das Abschalten beider Mecp2-Gene gezüchtet) kommt es durch das Hinzufügen einer gesunden Version von Mecp2 zu reifen Nervenzellen zu einer Umkehrung der meisten Krankheitsanzeichen. Darüber hinaus haben kürzlich durchgeführte Studien den Gedanken nahe gelegt, dass die Mecp2-Mutation ihre Auswirkungen teilweise über unterstützende Zellen im Hirn erreicht. Zu diesen Zellen zählen Astrozyten und Mikroglia.
Für die neue Studie wollten Kipnis und sein Team herausfinden, was passiert, wenn sie nur die Mikroglia im Hirn von Rett-Mäusen entfernen und sie durch gesunde, nicht mutierte Mikroglia ersetzen. Um dies zu tun, verabreichten sie den Mäusen eine Strahlendosis, die nahezu alle Immunzellen abtötet (diese Zellen sind empfindlicher für Strahlung, weil sie sich relativ schnell teilen). Dann taten sie, was Ärzte oft bei Leukämiepatienten durchführen: Sie gaben den Mäusen durch die Transplantation von Knochenmark von nah verwandten, aber gesunden Mäusen ein neues Immunsystem. Mikroglia sind Immunzellen, die aus dem Knochenmark stammen und von dort ins Hirn wandern, wenn sie heranreifen.
Zu Kipnis’ Überraschung entwickelten sich die Rett-Mäuse fast normal, nachdem sie auf diesem Weg Mikroglia erhalten hatten. Ihre Nervenzellen und Astrozyten enthielten die Rett-Mutation weiterhin, doch mit den gesunden, nicht mutierten Mikroglia erreichten sie eine fast normale Lebensspanne, nahezu normales Gewicht, Verhalten und andere Anzeichen. Sogar ohne eine Transplantation erlaubte die Wiederherstellung des Mecp2-Gens nur bei den Mikroglia der Mäuse eine teilweise Erholung. Im Gegensatz dazu konnten neue Mikroglia aus der Transplantation nicht in ausreichender Zahl ins Gehirn gelangen, wenn die Gehirne der Rett-Mäuse mit Blei abgeschirmt wurden, so dass die kranken Mikroglia nicht durch die Strahlung abstarben. Entsprechend entwickelten die Mäuse ihre üblichen Rett-Anzeichen.
„Es ist faszinierend, dass diese Mäuse so lange lebten”, sagte Kamal Gadalla, ein Rett-Wissenschaftler an der Universität Glasgow, der einen kürzlich erschienenen Artikel über die Krankheit hauptsächlich verfasst hat. „Das ist ziemlich viel versprechend.“
Die Ergebnisse der Transplantation sind zusammen mit Ergebnissen einer 2011durchgeführten Studie zu Mecp2–Gen-Ersetzung in Astrozyten „sehr überraschend und sie fordern bisherige Überzeugungen auf dem Gebiet heraus“, sagt Steven Gray, ein Rett-Gentherapieforscher von der Universität North Carolina.
Kipnis’ Studie wurde vom Rett Syndrome Research Trust in Fairfield, Connecticut, finanziert. Monica Coenraads, Mitbegründerin des Trusts und geschäftsführende Direktorin, zitierte den Fall eines Mädchens mit Rett, das nach einer Knochenmarktransplantation wegen Leukämie einige Kommunikationsfähigkeiten zurück erlangte—obwohl, wie sie ebenfalls sagte, das Mädchen später an der Leukämie verstarb. „Das ist die einzige Anekdote dieser Art, von der ich weiß, aber nun, da der Artikel veröffentlicht ist, hoffe ich, dass wir von anderen Fällen hören, bei denen eine Knochenmarktransplantation zu Verbesserungen bei einer Rett-Patientin geführt hat“, sagt Coenraads.
Behandlungsmöglichkeiten
Ein Abtöten der Immunzellenpopulation durch Strahlung und ihre Wiederherstellung durch eine Knochenmarktransplantation ist ein möglicherweise zu risikoreiches Verfahren für Kinder, die vom Rett-Syndrom betroffen sind. Da sich aber die Eltern dieser Kinder sehr genau darüber im Klaren sind, dass es keine Behandlungsmöglichkeit für die nahe Zukunft gibt, hofft Coenraads, dass Wissenschaftler in der Lage sein werden, sicherere Wege zu finden, um Mikroglia von Knochenmarkspendern in angemessener Zahl in die Gehirne von Rett-Patienten zu bringen, wenn Kipnis’ Ergebnisse durch andere Labore bestätigt werden können. Sie hält fest: „Knochenmarktransplantationen werden inzwischen bei einer langen Liste von Krankheiten eingesetzt.“
Alternativ könnten Forscher die vorhandenen Mikroglia bei Rett-Kindern durch Gentherapie anvisieren, so wie das Team von Kipnis es in seiner Studie getan hat. Bisher sahen sich die Versuche, das Rett-Syndrom mit Gentherapien, die Mecp2 an alle Hirnzellen verteilen, zwei großen Herausforderungen gegenüber. Die eine ist, dass die Expressionsstufe von Mecp2 innerhalb eines engen Rahmens gehalten werden muss; eine Gentherapie, die eine ungewöhnlich hohe Mecp2-Expression in Nervenzellen hervorruft, könnte toxisch auf das Hirn des Patienten wirken. „Bisher ist nicht klar, wie wenig wirklich genug ist, und wie viel zu viel“, sagt Gray.
Die andere Herausforderung ist, dass Gentherapien, die normalerweise Viren einsetzen, um therapeutische Gene in Zellen zu transportieren, bisher nicht sehr effizient arbeiten. Beide Herausforderungen könnten überwunden werden, indem man die Gentherapie auf Mikroglia anstatt auf Hirnzellen richtet. „Ich persönlich mag die Idee, Glia anstelle von Neuronen zu nutzen, weil es für die Glia nicht so bedrohlich ist wie für die Hirnzellen, wenn wirklich etwas schief geht“, sagt Gadalla. Es gibt darüber hinaus einige Hinweise darauf, dass Gentherapievektoren ihre Ladung effizienter an nicht-neuronale Zellen wie Glia liefern können als an Nervenzellen. „Vielleicht muss man nicht alles anvisieren, um mit Gentherapie einen therapeutischen Effekt zu erzielen“, sagt Gray.
Andere mögliche Strategien umfassen den Einsatz von Medikamenten, welche die Aktivität von gesunden Mecp2-Kopien in Hirnzellen verstärken.
Es ist nicht absolut klar, warum die transplantierten Mikrogliazellen in Kipnis’ Studie so starke Auswirkungen beim Schutz gegen Rett-Symptome hatten, aber Kipnis vermutet, dass dies mit der Arbeit der Mikrogliazellen als Blocker und Verwerter von zufälligen Ablagerungen im Hirngewebe zusammenhängt. Durch Rett mutierte Mikroglia in der Laborschale zeigten eine geschwächte Fähigkeit zum Blocken von Ablagerungen (‘Phagozytose’); und als das Team von Kipnis ein Medikament verwendete, um die Phagozytose der Mikroglia im Hirn der Empfängermäuse einer Transplantation zu schwächen, verloren die Mäuse große Teile des Schutzeffekts durch die Transplantation und entwickelten ihre bekannte Rett-ähnliche Verfassung. „Wenn dass Hirn beim Rett-Syndrom die Zellablagerungen nicht lösen kann, hat es nicht nur kranke Nervenzellen, sondern auch eine verschlechterte Unterstützungsumgebung um diese Nervenzellen herum“, sagt Kipnis. „Wenn wir diese Unterstützung wiederherstellen können, können die kranken Nervenzellen vielleicht mit höherer Kapazität funktionieren.“ Entsprechend ist eine weitere Behandlungsstrategie das Auffinden von medikamentösen Wirkstoffen, welche die Intensität der Phagozytose in Mikroglia verstärken können. Kipnis untersucht diese Möglichkeit jetzt.
Implikationen für andere Krankheiten
Normalerweise sind Forscher bei Schlussfolgerungen auf der Basis einer kleinen Studie an Mäusen sehr vorsichtig, aber Kipnis’ Ergebnisse stützen weitere Beweise, dass Mikroglia eine entscheidende Rolle bei Störungen der Kognition und des Verhaltens spielen. Alzheimer-Forscher wissen seit einigen Jahren, dass Mikroglia insofern am Schutz vor der Krankheit beteiligt sind, indem sie Amyloid-beta-Proteinaggregate entfernen. Wissenschaftler der Universität Utah berichteten 2010, dass eine Verabreichung von gesunden Mikroglia über eine Knochenmarktransplantation bei Mäusen eine genetisch bedingte Disposition, die sich in übermäßiger Pflege und dem Ausreißen von Haaren äußert und der Zwangsneurose beim Menschen ähnelt, heilte Es gibt ebenfalls vermehrt Beweise dafür, dass eine Gehirnentzündung—die Aktivierung von Mikroglia einschließt—die Produktion von neuen Nervenzellen des Hippocampus stoppen und zu Symptomen von Depression beitragen kann.
Ein gestörtes Neuroimmunsystem könnte auch zu einigen Fällen von Autismus beitragen, und Kipnis hofft jetzt herauszufinden, ob der Verlust der Phagozytose ebenfalls für Störungen im Autismusspektrum relevant ist. „Wenn wir an Mäusen zeigen können, dass wir durch das Entfernen der Phagozytoseaktivität bei Mikroglia eins der autistischen Syndrome imitieren können, würde das meiner Ansicht nach das gesamte Gebiet verändern“, sagt er. „Wir sind weit davon entfernt, aber genau dort wollen wir hin.“