Fragiles X und Rett-Syndrom – Die gegenüberliegenden Enden der Verteilungskurve?

Original Interview im Blog von RSRT nachlesen

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Mark Bear, PhD am MIT

Mark Bear, Ph.D. am MIT, ist der neueste Wissenschaftler, den der RSRT zu seiner Förderungsliste hinzugefügt hat. Professor Bear untersucht „Synapsen“, die Lücken zwischen Nervenzellen, über die chemische oder elektrische Signale ausgetauscht werden. Die Stärkung und Schwächung der Synapsen trägt zum Lernen und zur Gedächtnisleistung bei. Eine Schädigung kann allerdings zu neurologischen Störungen führen.
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Ein Großteil der Spannung in der Gemeinde des fragilen X basiert auf Erkenntnissen des Bear-Labors. Seine Entdeckungen haben eine Serie klinischer Versuche angestoßen.
Forbes
New York Times
Bloomberg
Die Geschäftsführerin des RSRT, Monica Coenraads, hat Professor Bear kürzlich getroffen, um seine Forschung am fragilen X zu besprechen und herauszufinden, inwieweit sich diese auf das Rett-Syndrom ausdehnen lässt.

MC: Professor Bear, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen, Ihre Forschungsergebnisse mit uns zu diskutieren. Viele unserer Leser haben sicher von den laufenden klinischen Versuchen mit dem fragilen X gehört und brennen darauf zu verstehen, wie sich Ihre Forschung auch auf das Rett-Syndrom auswirken könnte. Bitte erläutern Sie die so genannte „mGluR-Theorie des fragilen X“, die von Ihrem Labor entwickelt wurde.

MB: Gern. Die Synapsenfunktion erfordert eine Synthese von Proteinen in den Synapsen, so dass die Verfügbarkeit dem Bedarf entspricht. Dieser Bedarf wird teilweise wahrgenommen, indem metabotrope Glutamatrezeptoren (mGluR) aktiviert werden. Entsprechend wird mehr Glutamat freigesetzt, je aktiver die Synapsen sind, und das Protein wird zusammengesetzt. Wie in vielen Systemen gibt es auch hier Kontrollen und Ausgleichsfunktionen. Eine davon ist die negative Regulierung der Proteinsynthese durch FMRP, dem Protein, das vom fragilen X-Gen hergestellt wird, dem FMR1. Eine normale Synapsenfunktion erfordert einen Sinn für Ausgleich zwischen der vorantreibenden Proteinsynthese durch GluRs und der hemmenden Proteinsynthese durch FMRP. Im fragilen X fehlt das FMRP-Protein. Das ist, als würde man einen Wagen ohne Bremsen fahren – Sie haben den Fuß auf dem Gas, können aber nicht anhalten. Entsprechend kommt es zu einer übermäßigen Proteinsynthese, was wiederum zu einer Myriade schädlicher Konsequenzen führt. Ein viel versprechender Ansatz ist, mGluR zu hemmen, was soviel bedeutet, wie den Fuß vom Gas zu nehmen.
Inzwischen ist diese Theorie ziemlich weitreichend bestätigt worden, und zumindest an Tiermodellen für das fragile X können viele Merkmale der Störung durch eine Hemmung von mGluR korrigiert werden.

MC: Sie nehmen an, dass das Rett-Syndrom sich am anderen Ende des Spektrums befindet: Im Gegensatz zu einer übermäßigen Proteinsynthese haben wir hier eine zu geringe Proteinsynthese. Was steht für Sie hinter dieser Annahme?

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MB: Nachdem wir erst einmal Erfolg mit dem fragilen X hatten, dachten wir etwas breiter über andere Störungen einzelner Gene nach, wie sie etwa für Autismus, Krämpfe und Lernschwächen charakteristisch sind. Meine Gedanken standen unter dem Einfluss einer Arbeit von Christian Rosenmund und Huda Zoghbi. Die beiden untersuchten Synapsenverbindungen von hippokampal kultivierten Nervenzellen, die MeCP2 – das Rett-Syndrom-Protein – entweder unter- oder überexprimierten. Dabei fanden sie heraus, dass eine unterdrückte Expression von MeCP2 die Verbindung einschränkte und dass eine Überexpression die Verbindung intensivierte.
Wir betrachten das fragile X als eine Hyperverbindungsstörung: zu viel Proteinsynthese, zu viele Synapsen, oder zuviel synaptischer Umsatz… So haben mich Rosenmunds/Zoghbis Ergebnisse dazu gebracht, Rett aus der Sicht einer verringerten Proteinsynthese zu betrachten. Auch was die Beschaffenheit von Rett-Geweben betrifft, sehen wir Anzeichen verringerter Verbindung – zum Beispiel zu wenige Dornfortsätze an Dendriten.

MC: Sie waren letztens auf der Konferenz zum fragilen X in Edinburgh. Dort haben Sie Ihre Theorie auch mit Adrian Bird diskutiert. Erzählen Sie uns doch bitte davon.

MB: Ich grübelte so über die Annahmen nach, als ich Adrian plötzlich begegnete. Wir hatten eine glänzende Unterhaltung. Er hat mich sehr ermutigt, weil er das Ganze nicht für eine lächerliche Idee hielt. Das hat mich weiter angetrieben. Wir waren uns einig, dass unsere Medikamente, die sowohl eine übermäßige als auch eine verringerte Proteinsynthese korrigieren können, im Moment das Spannendste sind.

MC: Professor Bird hat mich nach Ihren Gespräch angerufen – Er schien ebenfalls sehr motiviert. Ich habe dann eine Telefonkonferenz organisiert, und wir drei waren schnell entschlossen, zusammenzuarbeiten und die Arbeit bezüglich der Experimente aufzuteilen. Erklären Sie unseren Lesern bitte, welche Medikamente zurzeit verfügbar sind.

MB: In letzter Zeit wurden zwei Arten von mGluR-Medikamenten entwickelt. Eine davon sind negative Modulatoren, die mGluR hemmen. Diese könnte man für das fragile X verwenden. Die anderen sind positive Modulatoren, die eine mGluR-Aktivierung unterstützen – und die könnten hilfreich bei Rett sein. Die negativen Modulatoren wurden ursprünglich zur potenziellen Behandlung allgemeiner nervöser Angstzustände entwickelt. Das Ziel war, die nächste Generation Anxiolytika zu entwickeln. Das wiederum motivierte die Pharmaindustrie, die hunderte Millionen Dollar investiert hat, um diese Stoffe zu entwickeln. Wir haben also Glück, dass es um unser Ziel herum bereits eine Menge großartiger Chemie gibt. Die positiven Modulatoren wurden ursprünglich gegen Schizophrenie entwickelt.

MC: Novartis hat kürzlich Daten für die zweite Phase eines klinischen Versuchs zum fragilen X vorgelegt. Was haben Sie sich als Ergebnis dieses Versuchs versprochen?

MB: Das Beste ist meiner Ansicht nach, dass sie sich entschlossen haben, mit Phase 3 weiterzumachen. Insgesamt denke ich, dass es enorme Hoffnung für Störungen wie Rett und das fragile X gibt, und das sogar für Interventionen bei Erwachsenen. Wir sind also sehr optimistisch und überaus motiviert, den von Rett betroffenen Menschen zu helfen. Ebenfalls sind wir dem RSRT dankbar, durch dessen finanzielle Unterstützung wir die Krankheit weiter erforschen und mit Adrian zusammen arbeiten können.

MC: Erzählen Sie uns von Seaside Therapeutics, der von Ihnen gegründeten Biotech-Firma, die Medikamente gegen Störungen der Nervenentwicklung entwickelt.

MB: Als wir erstmalig entdeckten, dass mGluR-Hemmer vielleicht hilfreich für Personen mit fragilem X sind, haben wir uns an Pharmariesen gewandt, bekamen aber einen eher frostigen Empfang. Zu dieser Zeit, vor etwa zehn Jahren, hatten die Pharmariesen wenig Interesse an seltenen genetischen Störungen. Ich gründete Seaside als Antwort darauf. Bisher waren wir ziemlich erfolgreich dabei, ein Medikament zu entwickeln, das sowohl bei fragilem X als auch bei Autismus viel versprechend ist. Seaside widmet sich der Behandlung von Störungen an einzelnen Genen. Obwohl wir gegenwärtig kein ausgewiesenes Rett-Programm haben, könnten wir jederzeit eines beginnen, wenn wir aussichtsreiche Führungskräfte bekommen. Wir sind bereit, die Arbeit aufzunehmen.

MC: Ich erinnere mich, wie ich in Ihrem Büro am MIT gesessen habe, vor 6 oder 7 Jahren. Wir sprachen über das Rett-Syndrom. Es hat ein bisschen gedauert, aber ich bin sehr glücklich, dass Sie jetzt an Rett arbeiten. Unsere Leser und ich wünschen Ihnen alles Glück dabei. Wir hoffen, bald von Erfolgen zu hören.