Skoliose beim Rett-Syndrom

Dieser Blogeintrag weicht ein wenig von unseren typischen, wissenschaftsbasierten Einträgen ab und konzentriert sich auf einen klinischen Aspekt bei Rett: Skoliose (Wirbelsäulenverkrümmung, d.Ü.). Als Mutter kann ich Ihnen versichern, dass nur der Gedanke an eine Skolioseoperation meine Knie weich und meinen Magen flau werden lässt. Ich habe während der letzten Jahrzehnte mit genug Eltern gesprochen, um zu wissen, dass ich mit diesen Gefühlen nicht allein bin. Meine Hoffnung ist, Familien und ihre umstehenden Ärzte, Therapeuten und Erzieher in Dialog über die mögliche Behandlung und –was noch besser wäre- Vorbeugung von Skoliose beim Rett-Syndrom zu bringen.

Meine Tochter mit Rett ist 13 Jahre alt, und sie befindet sich am ernsten Ende des Spektrums. Das Gebiet, auf dem wir einige Erfolge erzielen konnten, ist die Orthopädie. Wir konnten ihre Skoliose durch ein intensives Programm aus Physiotherapie (PT), Massage, Chiropraktik und Craniosakral Therapie verbessern.

Unten finden Sie Auszüge aus einem Gespräch mit Dr. Vishal Sarwahi, dem Direktor des Spine Deformity Service (Hilfsdienst für Wirbelsäulendeformation) und Mitglied des Rett-Syndrom-Zentrums am Kinderkrankenhaus in Montefiore, in der Bronx, NY, das von Dr. Sasha Djukic unterhalten wird.
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MC: Mir kommt es vor, als würde Rett seine Macht 24 Stunden am Tag auf unsere Kinder ausüben. Ein Weg, den körperlichen Schwierigkeiten, die Rett mit sich bringt, zu begegnen, ist über Therapien. Ein Tag wirksamer Physiotherapie bringt das Ergebnis sozusagen auf 23 für Rett zu 1 für das Kind. Jedes Mal, wenn meine Tochter ihren Therapeuten besucht, geht sie mit leichter Neigung und kommt gerade aufgerichtet zurück. Es ist ein ständiger Kampf. Rett zieht sie in eine Richtung, wir ziehen sie in die andere. Man muss den Kampf jeden Tag aufnehmen, wenn man nicht an Boden verlieren will.

Deshalb würde ich eine Sache gern mit anderen Eltern teilen und sie so zum Nachdenken darüber anregen, dass der Grad der Intensität entscheidend sein kann. Ohne beweisbasierte Forschung, die augenblicklich fehlt, ist es sehr schwierig nachzuweisen, dass die Intensität der Therapie wichtig ist. Familien müssen allein mit den Schulen und ihren Versicherungen verhandeln.

VS: Völlig richtig. Es gibt keinen wissenschaftlichen Beweis, dass Physiotherapie den natürlichen Verlauf der Skoliose ändern kann. Wenn mich Eltern fragen, ob Physiotherapie hilft, ist die Antwort trotzdem ein deutliches JA. Aber ob es einen wissenschaftlichen Beleg dafür gibt, dass sie den natürlichen Verlauf von Skoliose verändert. Hier ist die Antwort NEIN – weil es aktuell keine veröffentlichten Studien gibt. Persönlich bin ich zuversichtlich, dass PT, ordentlich ausgeführt durch einen guten Therapeuten, und, wie Sie sagen, über einen angemessenen Zeitraum, sehr hilfreich ist. Aber es ist schwierig, die benötigten Stunden genau zu beziffern. Ich würde sagen, vielleicht eine Stunde pro Tag für verschiedene Übungen zur Straffung und Stärkung des Rückens, und nicht nur des Rückens, sondern der abdominalen Muskeln ebenfalls.

Ihre eigene Tochter, die nicht allein läuft, ist ein gutes Beispiel, weil Skoliose häufiger bei Kindern vorkommt, die bettlägerig sind. Wesentlich ist die Tatsache, dass sie Wachstumsschübe gemacht hat, ohne dass es nennenswerte Veränderungen ihres Rückens gegeben hätte. Das beweist wissenschaftlich, dass die PT dafür verantwortlich ist. Woher sollen wir wissen, dass sie der sehr kleinen Minderheit von Fällen angehört, die nur geringe Skoliose haben?

MC: Ihre Skoliose ist besser geworden. Aber wie viele Kinder mit Rett haben Krümmungen, die besser werden?

VS: Nur sehr wenige.

PANKREATITIS

MC: Können Sie uns etwas über Pankreatitis (Bauspeicheldrüsenentzündung, d.Ü.) sagen und das erhöhte Risiko nach einer Operation, über das sich Eltern im Klaren sein sollten? Dies ist eine von vielen Sorgen, bei denen Eltern vorbeugende Schritte unternehmen können, wenn sie gut informiert sind.

VS: Ja, Menschen, die eine Skolioseoperation bekommen, haben ein erhöhtes Risiko für Pankreatitis. Es gibt ein paar Studien, die belegen, dass das Risiko bei Kindern mit neuromuskulären Störungen noch höher ist. Es ist ziemlich schwierig zu verstehen, warum sie Pankreatitis bekommen – und es gibt eine Reihe Theorien dazu. Eine Theorie ist etwa, dass das Morphin, das sie gegen Schmerzen bekommen, den Schließmuskel schließt, und dass es einige Rückflüsse von Säften in die Bauchspeicheldrüse gibt, die eine chemische Pankreatitis verursachen. Diese tritt normalerweise in der ersten Woche nach der Operation auf und kann zwischen 15 – 30% der Patienten betreffen. In unserem Zentrum sehen wir das nicht so häufig, unsere Prozentzahlen bewegen sich zwischen 10-15%, vielleicht weil wir ein viel strengeres Protokoll als die meisten einhalten, einschließlich regelmäßiger Kontrolle der Grade der Bauchspeichelenzyme. Bei nicht sprechenden Kindern tasten wir den Bauch ab, und wenn die Herzfrequenz steigt, fühlt sich das Kind mit ziemlicher Sicherheit unbehaglich oder hat Schmerzen. Wenn die Enzyme auf der höheren Seite sind, können wir einen Ultraschall durchführen, um das auszuschließen. Die Behandlung ist: Kein Essen durch den Mund, bis die Enzyme sich auflösen. Zusammenfassend kann man sagen, dass Pankreatitis bei nonverbalen Patienten etwas ist, worauf wir achten müssen. Wenn die Eltern aufgeklärt sind, wenn die Physiotherapeuten aufgeklärt sind und wenn das Operationsteam Bescheid weiß, kann sie mit ziemlicher Sicherheit früher diagnostiziert werden. Wir können nicht mit Bestimmtheit sagen, dass sie vermieden werden kann, aber zumindest ist sie früher erkennbar und man kann sie zumindest behandeln, zumal eventuelle Komplikationen sehr ernst werden können.

MC: Schmerzmedikamente sind ein anderer Punkt, der mich sehr beschäftigt. In manchen Studien heißt es, Kinder mit Rett-Syndrom seien nicht sehr schmerzempfindlich. Ich bin nicht immer sicher, ob sich nach einer Operation angemessen um ihre Schmerzen gekümmert wird. Meine persönliche Annahme ist, dass sie Schmerz fühlen wie wir alle, ihn aber nicht auf die Weise ausdrücken, die wir als Schmerzreaktion erwarten. Und so ist meiner Ansicht nach die Interpretation oft, dass sie keinen Schmerz fühlen oder eine hohe Schmerzgrenze haben. Ich bin nicht sicher, ob das wirklich so ist.

VS: Das ist ein Thema, das mir auch sehr am Herzen liegt. Es ist für uns sehr schwer, Schmerz richtig einzuschätzen. Ich vertraue immer zuerst dem Elternteil. Eine Sache, die ich meinem Personal vermittle, ist, dass die Mutter es am besten weiß. Wenn die Mutter sagt, das Kind habe Schmerzen, dann hat das Kind Schmerzen. Aber selbst eine Mutter hat manchmal Probleme beim Abschätzen der Intensität der Schmerzen. Also sehen wir uns den Blutdruck und die Herzfrequenz an. Flaches Atmen kann oft auf Schmerz hinweisen. Im Rett-Zentrum sind wir uns allerdings auch darüber im Klaren, dass Kinder mit Rett einen sehr unregelmäßigen Atemrhythmus haben können.

MC: Was ist mit Krampfanfällen? Ich meine, wie oft würden Sie erwarten, dass ein Kind nach der Operation solche Anfälle hat, was den Körper sehr knarren lassen kann?

VS: Natürlich muss der Neurologe an Bord und Teil des Teams sein. Viel hängt auch von der verwendeten Fixierung ab. Krampfanfälle sollten unseren Kindern—selbst wenn das Kind eine Drehung macht—an sich keinen Schaden zufügen. Ich befestige keins meiner Kinder nach der Operation und verwende auch keine Gipsverbände.

ALLERGISCHE REAKTIONEN

MC: Ein weiteres wichtiges Gebiet für Patienten mit Rett-Syndrom, von denen einige mitochondriale und andere Schwierigkeiten haben, ist der Typ der Betäubung. Welche Arbeit wird entsprechend im Vorfeld getan, um zu entscheiden, welche Betäubung zur Anwendung kommt?

VS: Unser Ansatz für die Betäubung ist immer auf vielfältige Disziplinen bezogen. Wir verwenden dazu das Vorwissen und die Gegenanzeigen. In unserem Zentrum haben wir momentan zwei Anästhesiologen und einen pädiatrischen Anästhesiologen, die immer an den Skolioseoperationen beteiligt sind.

MC: In Montefiore habe ich gesehen, dass Sie Routinetests auf Metallallergien vor den Operationen durchführen. Ich kann mir nichts Schrecklicheres vorstellen, als dass man all die festen Gegenstände einsetzen würde, um sie dann wegen einer allergischen Reaktion wieder herauszunehmen. Aber viele Eltern haben mir erzählt, dass die meisten Rettpatienten vor der Operation nicht getestet werden. Meine Tochter hat nie Schmuck oder Gürtelschnallen getragen, und entsprechend ist die Möglichkeit, dass Allergien auf natürlichem Weg ans Licht kommen, eher gering.

VS: Typischerweise hat eine Allergie gegen Metall am Beginn einen sehr langsamen Verlauf. Sie ist nicht wie Anaphylaxie, die man sofort sieht. Wir haben uns trotzdem für Routinetests entschieden, auch wenn sie teuer und zeitraubend sind. Es ist besser, sicher zu sein.

MC: Ich gratuliere Ihrem Zentrum zu diesem vorbeugenden Ansatz und hoffe, dass sich dieser weiter verbreitet. Zumindest unsere Leser haben nun das Wissen, um nach diesem Test zu fragen, wenn er nicht selbstverständlich angeboten wird.

AUSBLICK

MC: Nun zu einer eher forschungsbezogenen Frage… Wohin bewegt sich die Wissenschaft Ihrer Ansicht nach? Ich meine, denken Sie, dass diese Arten der Skoliose eventuell neuromuskulär, neurogenisch in ihrer Natur sind, denken Sie, dass man sie an irgendeinem Punkt verhindern kann, oder behandeln, so dass eine Operation vielleicht nicht länger nötig ist?

VS: Ich hoffe schon. Bisher wurde ein Gen für idiopathische Skoliose identifiziert. Es handelt sich um die gängigste Form der Skoliose und nicht um den neuromuskulären Typ. Ob dieses das einzige Gen ist, und wie das Gen wirkt, ist bisher unbekannt. Für eine neuromuskuläre Skoliose ist es unklar, ob es ein spezifisches Skoliosegen gibt, das sie hervorruft. Und bezogen auf das Rett-Syndrom: Ist es ein Gen, das direkt mit MECP2 verbunden ist, oder folgt die Skoliose aus einem neuromuskulären Ungleichgewicht? Letztes könnte sein. Meine große Hoffnung ist auch hier, dass wir herausfinden, wie wir das in Ordnung bringen können.

MC: Glauben Sie, dass es mehr Untersuchungen über PT oder Befestigung hinaus geben sollte, die vielleicht hilft, dieses Ungleichgewicht auszugleichen, vielleicht über eine Anwendung von Botox?

VS: Ich finde es schwierig zu akzeptieren, dass Skoliose im Zusammenhang mit dem Rett-Syndrom unvermeidbar ist. Ich denke, es gibt diese Theorie, dass jedes Kind verdammt ist, sie zu bekommen und man wenig dagegen unternehmen kann. Wenn Eltern und Ärzte das glauben, gerät man in einen Teufelskreis und dann gibt es nicht genug Konzentration auf innovative Strategien.

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MC: Da stimme ich Ihnen zu. Allgemein behandelt die Literatur über Rett ja diese vier Phasen und die Degenerierung des Bewegungsapparats in Phase vier. Ich muss manchmal denken, dass wir vielleicht zu dieser Degenerierung beitragen. Die Kinder werden größer und schwerer, sie erhalten nicht die gleiche intensive Pflege durch die Schulen oder andere Programme, die vorhanden war, als sie jünger waren, die Eltern werden älter und müder. Entsprechend gibt es einen ständigen Rückgang der Ressourcen und Therapien, weniger beteiligte Therapeuten, und da müssen wir uns schon fragen, wie viel der Degenerierung wirklich auf die Krankheit und deren natürlichen Verlauf zurückzuführen ist, und wie viel vielleicht von externen Umständen abhängt.

VS: Im Zusammenhang mit Rett stellt sich immer die Frage nach Natur versus Förderung, und es kann durchaus sein, dass es mit optimaler und sehr personenbezogener Versorgung für jedes Kind und jede/-n Erwachsene/-n mehr Spielraum, mehr Vielfalt und eine Chance zu grundlegender Verbesserung geben kann, als die Rett-Gemeinschaft bisher vollständig herausfinden und dokumentieren konnte. Doch ich denke, dass diese Art der Diskussion interessant ist; sie fördert das Bewusstsein und fordert uns, es besser zu machen.

MC: Dr. Sarwahi, ich danke Ihnen für Ihre Zeit und die Sorgfalt, mit der Sie diese Probleme angehen. Ich hoffe sehr, dass wir die Gespräche über neue und innovative Ansätze fortsetzen können.